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23. Dez. 2011

Seelisches Leid jetzt stärker bewertet

Oberste Gerichtshof spricht einem wegen eines Spitalsfehlers erblindeten Kind 165.000 Euro zu. Die Richter betonen dabei, dass man seelische Leiden nun höher bewerten muss als in der Vergangenheit.

Der Betroffene war als erster von zwei frühgeborenen Zwillingen in der 28. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen. Knapp zwei Monate später kam ein Oberarzt bei einer Untersuchung zu dem Schluss, dass wegen Veränderungen im Augenbereich eine engmaschige Kontrolle des Babys nötig sei. Dieser Anweisung kam im Krankenhaus aber niemand nach. Einen weiteren Monat später wurde plötzlich Alarm geschlagen, eine Notoperation in einem anderen Spital zur Rettung des Augenlichts musste aber wegen Aussichtslosigkeit abgebrochen werden. Die Justiz sollte später feststellen, dass zwar auch dann, wenn man auf den Oberarzt gehört hätte, eine Sehbehinderung wohl nicht hätte verhindert werden können. Man hätte aber, wenn man die Netzhautablösung festgestellt und umgehend therapiert hätte, wahrscheinlich 20 bis 40 Prozent der Sehkraft retten können. Das hätte ein problemloses Meistern des Alltags ermöglicht. Auch die späteren Berufsmöglichkeiten wären für das Kind noch weit größer gewesen. Bloß Berufe mit besonderen Anforderungen ans Sehvermögen (Feinmechaniker, Kraftfahrer) hätte der Betroffene später nicht mehr ausüben können.

So aber erblindete das Kind komplett. Die ersten drei Lebensmonate entwickeln sich blinde und sehende Babys noch gleich. Dann aber benötigt ein blindes Kind im Vergleich zu einem Kind mit 20- bis 40-prozentigem Sehvermögen einen um fünf Stunden höheren Pflegeaufwand, der zudem lebenslang besteht. Die psychische Situation blinder Menschen ist zudem sehr schwierig, Verhaltensauffälligkeiten schon bei Kindern häufig. Die Wahrscheinlichkeit, dass später eine Psychotherapie nötig werde, sei sehr hoch, betonten die Gerichte. Speziell in der Pubertät, wenn blinde Jugendliche sich ihrer Einschränkungen bewusst werden, werde das Selbstwertgefühl stark erschüttert. Wenn man erst später erblinde, sei das zwar traumatisierend, man könne dann aber Alltagsaufgaben leichter erfüllen, als wenn man von Anfang an ohne Augenlicht war. Das Landesgericht Feldkirch bemaß das Schmerzengeld mit 200.000 Euro, dazu sprach es eine Verunstaltungsentschädigung von 20.000 Euro zu, weil die Blindheit den Betroffenen am späteren beruflichen Fortkommen hindern wird. Das Oberlandesgericht Innsbruck reduzierte die Summe drastisch: Es sprach nur 100.000 Euro Schmerzengeld und eine Verunstaltungsentschädigung von 15.000 Euro zu. Beide Streitparteien zogen vor den Obersten Gerichtshof (OGH).

Vergleich mit früheren Urteilen

Die Höchstrichter betrachteten zunächst eine frühere Entscheidung, in der das bisher höchste Schmerzengeld in Österreich zugesprochen wurde. 218.000 Euro waren es, die ein Mann vor zehn Jahren erhielt. Betrachtet man die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes, so wären dies heute umgerechnet 266.000 Euro, so der OGH. Der betroffene 21-Jährige hatte allerdings bei einem Unfall höchstes Ungemach erlitten (unter anderem eine hohe Querschnittsymptomatik mit Lähmung des Atmungsnervs) und muss bis an sein Lebensende künstlich beatmet werden. So schwer seien die Dauerfolgen im aktuellen Fall nicht, erklärte der OGH. Sehr wohl würden aber gravierende Dauerfolgen vorliegen. Die Richter warfen nun noch einen Blick auf zwei weitere Entscheidungen, bei denen es um das Augenlicht ging: So erhielt eine 17-Jährige, die praktisch erblindet war und den Geruchs- und Geschmacksinn verloren hatte, 106.000 Euro (wenn man den damaligen Betrag auf das heutige Geldniveau umrechnet). Ein 24-Jähriger, der weitgehend erblindete, erhielt umgerechnet auf heutige Verhältnisse 87.000 Euro. Beide Urteile stammten aber aus den 1980er-Jahren. In den letzten Jahrzehnten rücke die Rechtsprechung bei Dauerfolgen aber die Komponenten psychischen Leids stärker als früher in den Vordergrund, betonte der OGH. Deswegen müsse man nun höhere Beträge als in der Vergangenheit zuerkennen. Im Ergebnis sprach der OGH dem erblindeten Kind 150.000 Euro an Schmerzengeld sowie 15.000 Euro als Verunstaltungsentschädigung zu (3 Ob 128/11m).

Petra Piccolruaz, Rechtsanwältin, Bludenz  

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