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8. Sep. 2011

EU könnte Verwaltungsgerichte notwendig machen

VwGH sieht Rechtsschutz nicht ausreichend umgesetzt

Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Diese Gerichtsgarantie gewährt - seit ihrem Inkrafttreten mit dem Vertrag von Lissabon - Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC). Die GRC lehnt sich an die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention an, erweitert diese aber in einigen Bereichen deutlich. Es muss sich, so Art. 47 GRC, um ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht handeln, das in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt. 

Art. 47 GRC führt zu neuen Herausforderungen für das österreichische Rechtsschutzsystem. Nach wie vor entscheiden in zahlreichen Rechtsgebieten in letzter Instanz keine Gerichte, die mit umfassenden Kontrollrechten ausgestattet sind, wie z. B. Unabhängige Verwaltungssenate, sondern Verwaltungsbehörden oder sonstige Einrichtungen (z. B. Bundesminister, Finanzmarktaufsicht). 

Deren Entscheidungen unterliegen zwar der Prüfung durch den VwGH, seine Kontrolle beschränkt sich aber im Wesentlichen auf rechtliche Aspekte. Ein Beweisverfahren, wie z.B. die Einholung eines Gutachtens durch den Gerichtshof, ist nicht vorgesehen. Dies wiederum hat insofern beträchtliche Konsequenzen, als der VwGH grosso modo an die Feststellungen der Behörde gebunden ist.

Brisante Entscheidungen
Zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 30. 9. 2010 (VwGH 2010/03/0051, 0055; 2009/03/0067, 0072) bergen einiges an Brisanz. Es ging um die Frage, ob die Kontrollmöglichkeit des VwGH gegen Genehmigungsbescheide des Infrastrukturministeriums (BMVIT) im Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren (UVP) den Rechtsschutz-Anforderungen nach der UVP-Richtlinie entspricht. 

Der VwGH verneinte dies aufgrund seiner eingeschränkten Kontrollrechte auf Tatsachenebene und konstruierte einen im UVP-Gesetz in diesen Angelegenheiten gar nicht vorgesehenen Instanzenzug an den Unabhängigen Umweltsenat. Der VwGH hegt in den beiden Entscheidungen Zweifel, ob Art. 47 GRC nicht ganz generell verlangt, dass ein Gericht mit umfassenden Kontrollbefugnissen anrufbar sein muss.

Der Anwendungsbereich dieser neuen EU-Gerichtsgarantie im nationalen Recht ist noch nicht restlos geklärt. Nach Art. 51 GRC gilt die Charta zunächst für EU-Organe, dann aber auch für die Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Charta ist daher auch anzuwenden, wenn z. B. EU-Richtlinien in österreichisches Recht umgesetzt werden. Der VwGH hat bereits angedeutet, dass Art. 47 GRC etwa bei der Vollziehung des Bankwesengesetzes, das in weiten Teilen Richtlinien der EU umsetzt, anwendbar sein könnte Folglich müsste vor dem VwGH ein Gericht über den Entzug der Konzession einer Bank durch die FMA angerufen werden können.

Umfassender Reformbedarf
Verneint der VwGH auch in anderen Rechtsbereichen, dass er über die nach Art. 47 GRC notwendigen Kontrollbefugnisse verfügt, dann besteht ein umfassender Reformbedarf in Österreich. Heute sind alle wichtigen Rechtsgebiete durch EU-Recht geprägt. Überall dort müssten daher noch vor der Anrufung des VwGH Gerichte mit umfassenden Überprüfungsrechten eingerichtet werden.

Dies betrifft einerseits den Rechtsschutz gegen letztinstanzliche Entscheidungen von Behörden, die keine Gerichte sind, z. B. die Bundesministerien, Landesregierungen oder die Finanzmarktaufsicht. Andererseits ist aber auch an die zahlreichen weisungsfreien und unabhängigen Regulierungsbehörden zu denken - z. B. die Post-Control-Kommission oder die Regulierungskommission bei der E-Control Austria. Diese sind zwar wie Gerichte organisiert, übernehmen aber in vielen Fällen nichtgerichtliche Aufgaben wie etwa die Genehmigung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder die Setzung aufsichtsbehördlicher Maßnahmen.

Eine befriedigende Lösung dieser nun akut gewordenen Rechtsschutzdefizite könnte in der Einrichtung von umfassend zuständigen erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten bestehen, die mit den erforderlichen Kontrollbefugnissen ausgestattet sind. Damit wäre gewährleistet, dass künftig alle verwaltungsbehördlichen Entscheidungen umfassend von einem Gericht überprüft werden können.

Piccolruaz Patrick, Rechtsanwalt

Kategorien: Sonstiges

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