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Schmerzensgeld

Was verlorene Lebensqualität wert ist

Der berühmte „Mc Donald’s coffee spill case“ ist durch die Weltpresse gegangen. Eine amerikanische Jury sprach einer Frau 2,9 Millionen US-Dollar zu, nachdem über ihren Schoß heißer Kaffee ausgegossen worden war. Solche Urteile sind in Europa undenkbar. Das mit gutem Grund. Um die „Zurückhaltung“ unserer Justiz verstehen zu können, muss man sich mit dem angloamerikanischen Rechtssystem auseinander setzen. Im Folgenden einige Grundzüge.

Schmerzensgeld in den USA

In Amerika entscheidet eine Jury. Sie setzt sich aus Bürgern zusammen, die das Gericht aus den Wählerlisten rekrutiert. Im Verfahren selbst stehen Berufsrichter und die Jury gleichberechtigt nebeneinander. Bevor sich die Jury am Ende der Verhandlung zur Beratung zurückzieht, wird sie vom Berufsrichter über das geltende Gesetzesrecht aufgeklärt.

Die Jury braucht ihr Urteil nicht zu begründen. Ob die Geschworenen die Instruktionen des Richters verstanden haben, kann ebenso wenig überprüft werden wie die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Überlegungen, die zu dem Urteil geführt haben. Die Geschworenen haben sogar die Befugnis, sich über ein Gesetz hinwegzusetzen, sofern sie das für angemessen erachten (Jury Nullification of the Law). Diese Praxis bezeichnen ihre Anhänger als höchsten Ausdruck der Unabhängigkeit der Justiz, Kritiker hingegen als Instrument der Willkür. Untersuchungen haben ergeben, dass die Geschworenen manchmal unvorhersehbare, ja unverständlich hohe Summen zusprechen, dass ihre Entscheidungen von Sympathien und Ressentiments geleitet und daher von einer gewissen Beliebigkeit sind. Die häufigsten negativen Effekte seien „Double-Discount-Effekt“, „Deep-Pocket-Effekt“.

Double-Discount-Effekt

Wenn bei uns einem Geschädigten ein Schmerzensgeld von beispielsweise € 50.000,00 zusteht und es ergibt sich im Verfahren, dass er zur Hälfte mitschuldig an der eingetretenen Verletzung ist, dann wird ihm eben nur die Hälfte des ihm zustehenden Betrages zugesprochen, nämlich € 25.000,00. Bei amerikanischen Jurys kommt es sehr häufig vor, dass sie die Richterbelehrung nicht hinreichend verstehen und einem Verletzten, der am Unfall mitschuldig ist, an einem Unfall mitschuldigen Verletzten schon von vornherein wenig Schmerzensgeld zusprechen und dieses dann noch um die Mitverschuldensquote kürzen, was man eben den Double-Discount-Effekt nennt.

Deep-Pocket-Effekt

Andererseits spielt es in amerikanischen Verfahren eine große Rolle, wie vermögend derjenige ist, der Schadenersatz zu berappen hat. Archivanalysen von Gerichtsentscheidungen weisen nach, dass Gesellschaften bei vergleichbaren Schäden vielfach höhere Entschädigungsbeträge bezahlen mussten als Einzelpersonen.

Man hat schon versucht, solche auch dem amerikanischen Rechtsverständnis widersprechende Missstände abzustellen und zwar durch so genannte „bifurcated trials“. Der Prozess wird geteilt. Die Geschworenen haben sich zunächst nur mit den Verletzungen auseinander zu setzen und zu bewerten, welches Schmerzensgeld hiefür zusteht. Erst danach werden sie informiert, ob und inwieweit ein Mitverschulden vorliegt und dann erst eine entsprechende Kürzung vornehmen.

Nun kann man sagen, es ist doch schön, wenn einem Geschädigten ein hohes Schmerzensgeld zugesprochen wird. Dabei werden aber die Schattenseiten eines solchen Systems übersehen. Amerikanische Ärzte und Krankenanstalten zahlen Haftpflichtprämien in exorbitanter Höhe, was wiederum die medizinische Versorgung der Bevölkerung erheblich verteuert. Würden bei uns ähnliche Beträge zugesprochen werden, so könnten sich die meisten von uns die daraus resultierenden Haftpflichtprämien für ihre Autos nicht mehr leisten.

Rechtslage in Österreich

Bei uns entscheiden Berufsrichter. Die Entscheidungen sind durch mindestens eine Instanz überprüfbar. Das Berufungsurteil wird von einem Dreiersenat gefällt. Manchmal ist auch der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof zulässig.

Die Entscheidungen werden in einschlägigen Fachzeitschriften publiziert, sodass sich im Laufe der Zeit ein exaktes Bild über die Rechtsprechung ergibt, an das sich wiederum die Berufsrichter halten. Es gibt aber auch Veränderung. Waren noch vor ein oder zwei Jahrzehnten die zugesprochenen Beträge im Verhältnis zu amerikanischen beschämend gering, so hat der Oberste Gerichtshof nach und nach neue Aspekte zugelassen und die Schmerzensgeldbeträge teilweise sogar drastisch erhöht.

Schmerzperioden

Schmerz ist nicht exakt messbar. Es handelt sich hiebei um eine individuell subjektive Empfindung. Es wird daher in allen Fällen eine Untersuchung des Verletzten durch einen Sachverständigen durchgeführt, der sein Gutachten nach gewissen Richtlinien zu erstellen hat. Der Sachverständige hat nicht nur die Dauerschmerzzustände, sondern auch deren Intensität einzuschätzen. Was die Intensität betrifft, so unterscheidet man zwischen sehr starken oder qualvollen, mittelstarken und leichten Schmerzen. Ein starker Schmerzzustand liegt vor, wenn der Betreffende ganz im Zeichen seiner Schmerzen lebt und trotz Behandlung an nichts anderes mehr denken kann. Bei mittelstarken Schmerzen ist er schon zum Teil in der Lage, an andere Dinge zu denken bzw. Handlungen vorzunehmen. Demnach liegen leichte Schmerzen dann vor, wenn sie nur noch einen Teil des Bewusstseins in Anspruch nehmen.

Obwohl der Oberste Gerichtshof erst jüngst ausgesprochen hat, dass der Schmerzensgeldanspruch als Globalsumme zu ermitteln ist, geht die Gerichtspraxis immer noch von einem Tarifsystem aus. Die Sachverständigen stellen fest, wie viele Tage starke, mittelstarke oder leichte Schmerzen im konkreten Fall angenommen werden müssen. Der Richter spricht dann (Stand 2005) für starke Schmerzen pro Tag € 300,00, für mittlere € 200,00 und für leichte € 100,00 zu. Diese Sätze werden von Zeit zu Zeit nach oben angepasst. Ein typisches Schmerzensgeldgutachten endet etwa so. Bei der Verletzung, wie sie der Betroffene erlitten hat, muss man mit 10 Tagen starken Schmerzen, 20 Tage mittleren und 50 Tagen leichten rechnen. Diese Feststellungen übernimmt der Richter ins Urteil und spricht pauschal € 11.500,00 zu.

Fehlende Schmerzempfindung

Für den Zuspruch von Schmerzensgeld müsste es eigentlich Voraussetzung sein, dass der Verletzte auch Schmerzen empfunden hat. Noch in den 70er Jahren wurde deshalb ein solcher Anspruch abgelehnt, wenn zB ein Schwerverletzter das Bewusstsein verloren und vor seinem Tod nicht mehr wiedererlangt hat. In der neueren Rechtsprechung geht man von einer anderen Auffassung aus: Wem die Erlebnisfähigkeit genommen wird, erleidet schadenersatzrechtlich zumindest einen ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person, wie wenn sein Wohlbefinden durch Schmerzen gestört werden würde. Die Festlegung der Höhe ist einem solchen Fall ausschließlich dem richterlichen Ermessen überlassen und erfolgt durch eine Pauschalierung.

Seelische Schmerzen

Dass für seelisches Leid Schmerzensgeld zugesprochen wird, hat erst in jüngster Zeit Bedeutung erlangt. Es werden neurologisch psychiatrische Gutachten eingeholt. Dabei gehen die Ärzte (und in der Folge die Richter in ihren Urteilen) ebenfalls von starken quälenden, mittelgradigen und leichten Schmerzen aus. Wenn der Betroffene seelische und körperliche Schmerzen erleidet, dann ist eine Trennung unzulässig. Es muss für die gesamte Störung des Wohlbefindens ein Pauschalbetrag zugesprochen werden. Auch für die seelischen Schmerzen gilt, dass ein exaktes Messen nicht möglich ist. Der Sachverständige muss einschätzen, was ein Durchschnittsmensch üblicherweise empfinden würde. Besondere Schmerzempfindlichkeit (Wehleidigkeit) des Betroffenen findet daher ebenso wenig Berücksichtigung wie eine ausgesprochene Schmerzunempfindlichkeit.

Tod eines Angehörigen

Lange Zeit hat es für Leid, Kummer und Trauerreaktion von Hinterbliebenen keine Abgeltung für die dadurch verursachten seelischen Schmerzen gegeben. Man rechnete diese Vorgänge zum allgemeinen Lebensrisiko, wie zB Scheidung, Verlust der Arbeit, berufliche Überforderung etc. Die Rechtsentwicklung wurde nicht unbedeutend durch Empfehlungen des Europarats vorangetrieben. Man meinte schon 1975, dass ein Schmerzensgeldanspruch nicht nur bei einem Verlust innerhalb der „Kernfamilie“ (Vater, Mutter, Ehegatte) zuzusprechen sei, sondern auch dann, wenn zwischen dem Verstorbenen und dem Hinterbliebenen zum Zeitpunkt des Todes enge Gefühlsbeziehungen bestanden haben. Mittlerweile gilt es auch in Österreich als umstritten, dass Hinterbliebenen oder Angehörigen von Schwerverletzten (zB gelähmte Unfallopfer) ein angemessenes seelisches Schmerzensgeld zusteht.

Familientrennung

Die allgemein bekannte Erfahrenstatsache, dass besonders bei (Klein-)Kindern die Trennung von den Eltern während eines Krankenhausaufenthaltes als stark empfunden wird und die seelische Entwicklung nachhaltig beeinflussen kann, wird neuerdings auch von unseren Gerichten bei der Bemessung von seelischem Schmerzensgeld berücksichtigt. Als markantes Beispiel für diese Art von Entscheidungen gilt eine solche des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahr 1994. Ein 20 Monate altes Kleinkind konnte von der Mutter, die selbst schwerst verletzt worden war, erst Wochen nach dem Unfall besucht werden, wobei die Mutter aber weitere Monate in Behandlung verbleiben musste, sodass sie sich nur selten dem Kind widmen konnte. Der Gutachter stellte bei dem Mädchen aufgrund dieses gravierenden Trennungserlebnisses massive angstneurotische Symptome fest, die nur mit fachkundiger Hilfe einigermaßen überwunden werden können. Weitere Störungen in der seelischen Entwicklung mochte er nicht ausschließen. Das Gericht erkannte auf ein Schmerzensgeld von ATS 30.000,00. In der Literatur wurde diese Entscheidung ausführlich besprochen und als „bahnbrechend“ sowie „begrüßenswerten Judikaturwandel“ bezeichnet.

Einzelfälle

Die Rechtsprechung über Schmerzensgeldansprüche ist in Österreich hervorragend dokumentiert. Publiziert werden Entscheidungen der Oberlandesgerichte (Graz, Innsbruck, Linz und Wien) und des Obersten Gerichtshofes. Dies deshalb, weil nicht in allen Fällen eine Anrufung des Höchstgerichtes zulässig ist, sodass die jeweiligen Oberlandesgerichte letzte Instanz sind.

6.000,00 ATS
Jemand wurde rechtswidrig festgenommen und 1 ½ Tage eingesperrt. Verlangt wurden ATS 100.000,00. Das Urteil stammt aus dem Jahr 2001.

26.000,00 ATS
Eröffnung des Schleimbeutels vor der linken Kniescheibe. Zwei Rissquetschwunden im Bereich des linken Ellbogengelenks, keine Dauerfolgen. Begehren ATS 60.000,00, Urteil 2000.

60.000,00 ATS
Isolierter Bruch der achten Rippe links. Verlangt wurden ATS 60.000,00, Urteil 2001.

140.000,00 ATS
Schädeltrauma der Halswirbelsäule. Drei Jahre lang teilweise starke Schwindelsymptome und Übelkeit. Begehren ATS 190.000,00, Urteil 2002.

Offener Schädeldachimpressionsbruch mit Hirnprellung, mehrere Rippenbrüche mit Lungenprellung, Schlüsselbeinbruch links. Begehren ATS 140.000,00, Urteil 2002.

200.000,00 ATS
Oberschenkelbruch rechts mit Beinwertminderung 15 %, große Wunde am linken Sprunggelenk mit Gelenksöffnung, tiefe Wunde über der linken Darmschaufel, mehrfach kleine Rissquetschwunden und Prellungen. Begehren ATS 250.000,00, Urteil 1999.

Das bisher – soweit bekannt geworden – höchste Schmerzensgeld, das der Oberste Gerichtshof zugesprochen hat, war:

3.000.000,00 ATS
Der Verletzte erlitt ein Schädel-Hirntrauma II mit Läsion des Hirnstamms, neurogener Schock, Bruch des linken Querfortsatzes des dritten und vierten Lendenwirbelkörpers, hohe Querschnittsymptomatik mit Lähmung beider Arme und Beine und des Atemnervs. Der Betreffende kann bis zum Lebensende nur maschinell künstlich beatmet werden. Mastdarm- und Blasenlähmung, wegen der Abhängigkeit von einem ständig funktionierenden Beatmungsgerät andauernde Todesangst; Lebenserwartung noch 10 – 14, maximal 17 Jahre, Schmerzen nicht bestimmbar. Begehren ATS 5 Mio., Urteil 2002.

Schlussbemerkung

Wir haben in Österreich einerseits eine gefestigte, gut überschaubare Rechtsprechung, die aber dennoch so flexibel ist, dass sie sich neueren medizinischen Erkenntnissen und auch gesellschaftspolitischen Entwicklungen nach und nach, oft sehr zögerlich, anschließt. In letzter Zeit ist zu beobachten, dass die Beeinträchtigung durch Schmerzen, insbesondere aber dauernde Gesundheitsbeeinträchtigungen (im Umweg über seelische Schmerzen), doch deutlich gravierender bewertet werden als noch vor 5 – 10 Jahren. Dass Betroffene Urteile als unangemessen empfinden, ist zu verstehen. Jedes Gutachten ist nur eine Schätzung aufgrund ärztlicher Erfahrung, ein Messen von Schmerzen gibt es eben nicht. Unser System hat aber den Vorteil, dass man mit einer gewissen Verlässlichkeit beurteilen kann, was einem Betroffenen zusteht oder nicht. Reine Willkürentscheidungen wie in Amerika, die überdies davon abhängen, wie viel Geld derjenige hat, der zahlen muss, sind bei uns undenkbar.

Rechtsanwälte
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